Zunächst sei gesagt: Dieses Buch ist keine leichte Kost. In ihrem – vollkommen zu Recht – preisgekrönten Debütroman „Nein“ (Originaltitel „Dark Chapter“) verarbeitet die Autorin Winnie M Li ihre eigene Vergewaltigung – und erzählt aus Opfer- und Täter-Perspektive.
Winnie M Li, die in dem Buch den Namen Vivian trägt, lebt in London. Gerade erst hat sie ihr Studium beendet, nun will sie beruflich durchstarten. Sie liebt das wandern und packt regelmäßig ihren Rucksack, um an sonnigen Tagen den Kopf freizubekommen. Es ist ein sonniger Frühlingsnachmittag, als die 29-Jährige bei einer ihrer Wanderungen von einem 15-jährigen Fremden verfolgt, niederringt, prügelt und schließlich vaginal und anal vergewaltigt wird. Schonungslos beschreibt die Autorin Winnie M Li das grausame Geschehen. Denn nichts gibt es daran zu beschönigen.
Der 15-Jährige: Das ist Johnny. Ein Halbstarker, der in der nordirischen Hauptstadt Belfast lebt und sich die Zeit damit vertreibt, Leuten nachzustellen, sie auszurauben – und Frauen zu vergewaltigen. In seinen Augen ist sein Verhalten „normal“. Frauen wollen es seiner Meinung nach so. Das „Nein“ von Vivian alias Winnie hat für Johnny keine Bedeutung.
Winnie M Li gibt dem Vergewaltiger einen funken Menschlichkeit
Von Beginn hat wird die Geschichte aus beiden Perspektiven erzählt. Die Leser werden gezwungen, auch die Sichtweise des Vergewaltigers anzunehmen – ob man nun will oder nicht. Man wird konfrontiert – mit schiefliegenden familiären und gesellschaftlichen Strukturen, denen der Junge ausgesetzt ist. Und die sie vielleicht zum Vergewaltiger haben werden lassen. Vivian sieht sich wiederum nach dem Erlebten einer Ohnmacht gegenübergestellt. Der Übergriff bedeutete einen Existenzbruch. Betäubt und angsterfüllt, zweifelt sie daran, je wieder ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Bis zu dem Tag der Verhandlung. Sie weiß, dass nur durch ihre Aussage eine Verurteilung möglich ist. Und dass sie auch nur so wieder die Kontrolle über ihr Leben zurückerlangen kann.
Die Vergewaltigung: Sie ist Winnie M Li selbst widerfahren. Das war 2008. Fünf Jahre später begann die Autorin an „Nein“ zu arbeiten. Obwohl sich die gesamte Geschichte um das tatsächlich Erlebte dreht, ist das Buch als Roman ausgelegt. Und das aus gutem Grund: „Zum einen konnte ich so umgehen, über private Erfahrungen oder Kontakte zu schreiben, die die Geschichte zwar brauchte, die ich aber nicht bereit war, zu teilen. Ich hatte so viel mehr Freiheiten beim Schreiben“, erklärt Winnie M Li im Interview mit jetzt.de „Zum anderen kenne ich meinen Vergewaltiger nicht – und wollte ohnehin nicht über die real-existierende Person schreiben.“
Doch eben diese zweite Perspektive des Täters macht das Werk so eindringlich. Gleichermaßen kam das Hineinversetzen in die fiktive Figur Johnny einem Heilungsprozess bei der Autorin gleich, wie sie weiter im Interview erzählt. Jahrelang litt Li unter posttraumatischen Belastungsstörungen und Platzangst: „Ich wollte deshalb die Gedanken eines jungen Vergewaltigers erforschen“, erzählt die Autorin. „Jemand entscheidet sich, diese Tat zu begehen. Die Gründe dafür wollte ich soweit wie möglich verstehen – und dann zeigen, dass solche Menschen nicht als Vergewaltiger geboren werden. Ich wollte dem Täter einen Funken Menschlichkeit geben.“
Winnie M Li: „Nein“ könnte nicht aktueller sein
Dennoch liefert Li mit „Nein“ keine gemeingültige Antworten oder Lösungen. Wie auch? Das Unvorstellbare, das Grausame ist nicht logisch erklärbar. Die Schriftstellerin zeigt Mut und Ehrlichkeit. Und lässt in ihrem Roman viel Zeit und Raum für die Figuren. Li erzählt, wie die Tat das Leben aller Beteiligten nachhaltig verändert. „Nein“ ist nicht nur die Geschichte über eine furchtbare Vergewaltigung. Sie ist auch eine kritische Auseinandersetzung mit unserer Gesellschaft, in der Opfern von sexualisierter Gewalt die Stimme genommen wird und gleichzeitig kein Diskurs darüber geführt wird, wie Menschen zu Tätern werden. In Zeiten von der #metoo-Debatte und der #WhyIDidntReport-Bewegung könnte das Werk nicht aktueller sein.
Winnie M Li „Nein“
Aus dem Englischen von Volker Oldenburg. Arche Atrium, 448 S., 22 Euro
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