Was ist beim Sex noch „normal“ und was ist schon krankhaft? Diese Frage stellen sich viele. Dabei schwirren im Internet viele undifferenzierte Beiträge herum. Höchste Zeit also unsere Expertin Nicole Engel, Diplom-Psychologin und Sexualtherapeutin aus Berlin, zu Wort kommen zu lassen.
Laut des diagnostischen Kriterienkatalogs „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM) gelten Dinge wie Striptease oder Dominanz des Partners im Schlafzimmer als „Fetisch“. Voyeurismus und Masochismus zählen nämlich zu krankhaft gestörten Sexualpräferenzen, so genannten Paraphilien. Was bedeutet das genau?
Sexuelle Empfindungen und Aktivitäten hängen mit der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zusammen und haben generell eine große Variationsbreite. Nicht nur in der Intensität des Wünschens und Erlebens sondern auch in den verschiedensten sexuellen Praktiken. Aufgrund dieser Bandbreite ist es häufig schwer, Grenzen zwischen Normalität und Abweichung eindeutig zu ziehen. Im Gegensatz zu anderen Klassifikationen von psychischen Störungen hängt die Definition von sexueller Abweichung enger mit den Normen unserer Gesellschaft zusammen, in der entweder entsprechende Verhaltensmuster häufig gezeigt werden oder nicht.
In der Psychologie stehen zwei Klassifikationssysteme für Krankheiten zur Verfügung. Gemäß dem ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) werden „Störungen der Sexualpräferenz“ und im Sinne des DSM-5 „Paraphile Störungen“ unterschieden. Eine Paraphilie wird demnach als sexueller Drang nach einem unüblichen Sexualobjekt oder nach unüblicher sexueller Stimulierung beschrieben. Striptease und sexuelles Dominanzverhalten im gegenseitigen Einvernehmen stellen hierbei keine „Störungen“ dar. Voyeurismis und Masochismus hingegen schon, wenn dadurch die Freiheitsrechte anderer eingeschränkt werden und/oder der oder die Ausübende unter dieser sexuellen Präferenz selbst leidet.
Eine aktuelle Studie kanadischer Forscher stellt die Unterteilung in „normal“ und „unnormal“ in Frage: Das Ergebnis: Fast die Hälfte (45,6 Prozent) der Probanden hatte sexuelles Verlangen nach mindestens einer der als Paraphilie geltenden Sexualpraktiken. Ein Drittel (33 Prozent) hat sogar schon mindestens einmal eine solche „abnormale“ sexuelle Neigung ausgelebt. Wundert dich das?
Das wundert mich nicht. Ich finde es wunderbar, dass Menschen ihre sexuellen Wünsche im gegenseitigen Einvernehmen ausleben. Unsere Gesellschaft entwickelt sich weiter. Auch die Psychologie ist eine Disziplin, die stetiger Weiterentwicklung unterliegt. Wurden früher normabweichende Sexualpraktiken zu schnell und leichtfertig in den Bereich „krankhafter Abweichung“ gerückt, unterliegen die Paraphiliemerkmale für eine „psychische Störung“ aktuell einem kontinuierlichen Wandel. Heute werden in modernen, psychologischen Ansätzen der Klassifikation die Präferenzen Fetischismus, Transvestitismus und der in wechselseitigem Einvernehmen gelebte sexuelle Sadomasochismus problemlos aus der Kategorie „Störung der Sexualpräferenz“ gestrichen.
Warum?
Der wichtigste Grund dafür ist, dass paraphile Verhaltensweisen so lange keine psychischen Störungen darstellen, wie die Betroffenen nicht selbst unter ihrem Drang zur Ausübung sexueller Praktiken leiden oder die Freiheitsrechte anderer nicht verletzt und eingeschränkt werden.
Mit was für Fällen beschäftigst Du Dich in Deiner tagtäglichen Arbeit als Sexualtherapeutin?
Ein Beispiel aus meiner Praxis für Herausforderungen in der Paarbeziehung aufgrund eines Fetischs ist zum Beispiel der Wunsch eines Mannes ausschließlich durch die Füße seiner Frau stimuliert und befriedigt zu werden. Probleme aufgrund eines nicht gelebten oder zuviel gelebten Fetischs sind jedoch eher nicht so häufig. Zum einen geht das Ausleben eines Fetischs häufig nicht mit dem oben beschriebenen Leidensdruck einher, weil beide Partner/innen fein damit sind. Zum anderen ist mit Sicherheit auch hier das Thema – wie generell über Sex oder Masturbation in unserer Gesellschaft zu sprechen – eher schambesetzt, so dass sich ggf. Betroffene eher seltener melden und das Thema mit sich aus machen. Das ist sehr schade. Da Sex doch eine der schönsten Nebensachen der Welt ist und jede und jeder diesen so leidenschaftlich ausleben sollte, wie er oder sie es sich wünscht.
Ab wann ist ein Fetisch normal – ab wann zwanghaft?
Eine Behandlungsbedürftigkeit besteht aus sexualtherapeutischer Sicht, wenn der Fetisch als vollständiger Ersatz für die partnerschaftliche Sexualität dient, die sexuelle Befriedigung ohne Verwendung des Fetischs erschwert ist oder unmöglich erscheint UND bei dem oder der Betroffenen dadurch ein entsprechender Leidensdruck entsteht. Heißt: Ohne den Fetisch geht aus sexueller Sicht rein gar nichts mehr. Davon betroffen sind laut Expertenschätzungen ca. 3 % der Männer und Frauen deutlich seltener.
Welche Art von Fetisch ist vollkommen alltäglich?
Alles, was einen im Besonderen sexuell erregt, kann eine sehr ausgeprägte Vorliebe sein – oder ein Fetisch. Ein Fetisch bezieht sich oftmals auf unbelebte Gegenstände, Objekte oder Materialien. Diese dienen der sexuellen Erregung und Befriedigung. Zahlreiche Fetische stellen eine Erweiterung des menschlichen Körpers dar, z. B. Kleidungsstücke oder Schuhe. Alltäglich sind Dessous, Netzstrümpfe, Gummi-, Plastik-, Lack- und Lederklamotten, Stilettos oder auch Turnschuhe. Jedoch auch Füße können einen Fetisch darstellen. Oder Luftballons.
Was macht einen Fetisch so erotisch?
Der Fetisch führt zu intensiven sexuellen Impulsen und Phantasien. Er erregt und befriedigt in sexueller Hinsicht. Das macht ihn so interessant und unabdingbar.
Vielleicht werden aus individueller Sicht damit Grenzerfahrungen gemacht, gesellschaftliche Konventionen gebrochen, Macht ausgelebt, Beziehungsunfähigkeit und andere nicht gelebte Bedürfnisse kompensiert oder aufgrund der Einzigartigkeit der Selbstwert erhöht.
Kann es gefährlich werden, wenn man seine sexuellen Vorlieben oder seinen Fetisch unterdrückt? Oder anders gefragt: Sollte man seine sexuellen Vorlieben immer ausleben?
Sollte Mann und Frau, solange andere nicht geschädigt oder in ihren Freiheitsrechten eingeschränkt werden oder der Fetischist unter dieser sexuellen Präferenz selbst nicht leidet! Ein Nichtausleben bedeutet stets eine Unterdrückung von Bedürfnissen, was keinesfalls förderlich für die eigene Lebensqualität und psychische Stabilität sein kann.
Liebe Nicole, vielen Dank für das Interview!
Hast Du einen Fetisch? Finde es heraus!