Warum wollen sich Menschen nicht mehr binden? Vor allem in urbanen Gegenden und Metropolen bekommen viele bei dem Wort „Beziehung“ Schnappatmung. Scheinbar besteht eine echte Angst. Doch warum? Unsere Autorin Anne hat nach Gründen gesucht – und eine einfache Lösung gefunden…
In einer Welt, in der wir alles haben können, wird es immer schwieriger, das „Perfekte“ zu finden
Ich wache jeden Morgen auf und sehe mich einem Badezimmerschrank voller Salben, individuell angerührter Cremes, Peelings, Masken und Seren gegenübergestellt. Gefühlt hunderte Döschen und Fläschchen, die ich kaum auseinander halten, geschweige denn sagen kann, was das eine Produkt oder das andere bewirkt.
Unsere Gesellschaft ist besessen davon, zu vergleichen und zu kontrastieren. In einer endlosen Suche nach dem „Perfekten“. Nichts ist heilig. Nicht einmal die Liebe!
Doch das ist nur der Anfang: Aus meiner überfüllten Garderobe wähle ich mir ein richtiges Outfit mit den passenden Schuhen. Mit Fahrrad, Uber, Taxi oder CarSharing suche ich mir den besten Weg ins Büro: Im Café auf dem Weg zur Arbeit wähle ich zwischen Single Origin, Freihandels-Kaffeebohnen, French Press, Espresso, Long oder Short Aeropress… ihr merkt schon worauf ich hinaus will: Es gibt kaum einen Aspekt im Leben, der mir nicht eine große Auswahl bietet. Ich scrolle mich durch schier endlose Sortimente. Ich verbringe Stunden damit, Rezensionen zu lesen. Ich entdecke neue Marken und vergesse im gleichen Moment die alten. Unsere Gesellschaft ist besessen davon, zu vergleichen und zu kontrastieren. In einer endlosen Suche nach dem „Perfekten“. Nichts ist heilig. Nicht einmal die Liebe!
Liebe auf den ersten Blick? Mit dem Aufstieg der Dating-Apps gehört das der Vergangenheit an
Beziehungen kommen und gehen. Die Menschen um uns herum führen ein choreographisches Hin und Her des Zusammenkommens und der Trennung auf. Hinzu kommt der ungehinderte Zugang zu neuen Menschen durch Dating-Apps. Es gibt buchstäblich eine Million Apps: Ganz egal, ob man nach einem Abenteuer für eine Nacht ist, der LGBTQI-Community angehört oder Partner*innen mit akademischen und elitären Hintergrund sucht. Und sobald wir uns mit der aktuellen Wahl langweilen, durchforsten wir den Markt nach neuen, „besseren“ Menschen. Die Folge: Die Aufmerksamkeitsspanne für Romantik sinkt. Und ist irgendwann so begrenzt, dass wir uns nicht einmal mehr die Mühe für ein ein zweites Date geben.
Auf unserer endlosen Suche nach dem perfekten Leben mit der perfekten Hautpflege-Routine, der perfekten Kaffeemischung und dem perfekten Partner vergessen wir einfach, dass es das nicht gibt.
Versteht mich nicht falsch. Ich selbst gehöre zu diesen Menschen. Es dauerte über sechs Monate, bis ich feststellte, dass mein Freund, den ich sehr liebe und mit dem ich gerade eine Wohnung bezogen habe, tatsächliches „Boyfriend-Material“ ist. Während ich meine Zeit damit verbrachte, seine Fehler zu suchen, blieb er einfach geduldig und überschüttete mich mit Liebe. Schließlich wurde mir endlich klar, dass selbst die Dinge, die mir an ihm nicht gefielen, einfach nur Teil dieses erstaunlichen Menschen waren, in den ich mich nun einmal verliebt hatte. Und genau da liegt das Problem bei den meisten: Auf unserer endlosen Suche nach dem perfekten Leben mit der perfekten Hautpflege-Routine, der perfekten Kaffeemischung und dem perfekten Partner vergessen wir einfach, dass es das nicht gibt. Menschen sind komplexe Wesen und einige brauchen ihre Zeit, um vollständig aufzublühen.
Nein, es gibt nicht „the one“!
Wenig hilfreich ist es da, dass in der Popkultur immer noch vorgegaukelt wird, dass der einzige Bereich im Leben, in dem man wirklich nur eine richtige Option hat, die Liebe sei. Das Finden von „dem Einen“ oder „der Einen“ ist ein Thema, das so tief in unserer Psyche und unserer Vorstellung von Beziehung verankert ist, dass für viele die Suche, die Jagd (!), zu einer zeitraubenden, furchterregenden Erfahrung geworden ist: Wir scrollen durch Profile. Wir swipen links bei einer Cargo-Shorts, rechts bei einer witzigen Biografie. Und selbst wenn Du in einer Beziehung bist, ist die Geduld meist so begrenzt. Denn wir wissen, dass der Markt immer noch da ist und 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche geöffnet ist. Wenn wir also Kämpfe austragen oder in langweilige Phasen geraten, flüster diese eine Stimme im Kopf: Ist es das?
Bei dieser deprimierenden Analyse des modernen Datings stellt sich die Frage: Gibt es noch Hoffnung? Während viele sagen würden, es gibt die Idee von dem perfekten Menschen, dem einzig wahren Partner, nicht, behaupte ich das Gegenteil: Es gibt den oder die Eine. Und zwar viele davon. Genauer gesagt: Es gibt Hunderttausende von potentiellen Partnern, die uns auf verschiedene Weise glücklich machen könnten. Und zwar an zahlreichen Orten auf der Erde und in verschiedenen Phasen. Das zu erkennen, ist vielleicht die größte Herausforderung: Denn sowohl neue als auch langfristige Beziehungen müssen sich der unendlichen Auswahl stellen. Im Wesentlichen bedeutet es aber auch, der Partner nicht trotz sondern wegen der Tatsache, dass er „nicht perfekt“ ist, vielleicht genau das ist…