Sexualwissenschaftlerin und Autorin Chantelle Otten wirft einen intimen Blick auf ein Tabuthema: Es dreht sich heute rund um Menschen mit Behinderungen – und sexuelle Lust.
Sexuelles Verlangen ist ein Recht aller Menschen, ob behindert oder nicht. Sex und Intimität sind wichtige Aspekte des Wohlbefindens, doch in unserer Gesellschaft wird über Sexualität nach wie vor oft geschwiegen. Die Folge: ein Mangel an Informationen, Menschen mit einer Behinderung werden bei der Darstellung von Erotik gar nicht erst berücksichtigt. Mehr noch, Menschen mit Behinderung werden gerne als asexuelle Menschen angesehen, als Menschen, die kein Interesse an Sex haben, und das ist so weit von der Wahrheit entfernt! Menschen mit Behinderung können eine ebenso starke Libido, Lust und Bedürfnis nach sexueller Intimität haben wie jeder andere auch. Die Gesellschaft muss ihre Wahrnehmung ändern und aufhören, behinderte Menschen als „andere“ zu betrachten. Wir alle sollten endlich erkennen, dass Menschen Menschen sind und alle Menschen erotische Menschen sein können.
Es gibt keine „richtige“ Art, Sex zu haben!
Ich habe oft mitgekommen, dass Menschen die Frage „Können sie überhaupt Sex haben?“ stellen – und genau das fühlt sich wie der zentrale Punkt vieler Tabu-Ideen rund um das Thema Behinderung an. Erstens: Wenn Ihr diese Frage stellt, solltet Ihr euch gut überlegen, warum Ihr über sie nachdenkt. Vielleicht haben manche Menschen das Gefühl, dass sie nicht zu jemandem mit einer Behinderung „passen“. Oder dass behinderte Menschen nur mit anderen behinderten Menschen ausgehen sollten (was ebenso falsch ist wie der erste Gedanke). Oder vielleicht sehen sie Menschen mit Behinderungen als kindlich oder pflegebedürftig an und schämen sich deshalb, sie auf sexuelle Weise zu sehen (ein weiteres großes NEIN). Menschen mit Behinderungen können Sex haben. Sie können Sex mit anderen Menschen mit Behinderungen haben. Sie können Sex mit nicht behinderten Menschen haben. Sie können masturbieren. Sie können Fantasien haben. Sie KÖNNEN. Es kann jedoch sein, dass es nicht so aussieht wie in unserer Vorstellung. Wir müssen endlich davon wegkommen, dass es eine „richtige“ Art und Weise gibt, Sex zu haben. Dass Sex zwingend Penetration oder einen Orgasmus oder überhaupt Genitalien beinhalten muss. Wenn wir es uns erlauben, kreativ und fantasievoll zu sein, kann es einen nie endenden Vorrat an Ideen und Möglichkeiten geben, mit jemandem sexuell und intim zu sein. Wir müssen nur mit unserem Partner kommunizieren, Dinge ausprobieren und sehen, was für seinen und unseren Körper funktioniert.
Denkt immer daran: Sex ist eine äußerst individuelle Sache!
Jetzt lasst uns mal Klartext reden. Wenn wir einen Partner haben, der behindert ist, sollten wir herausfinden, wie, auf welche Weise und wo er berührt werden möchte, etwas, das ich mit jedem neuen Partner so machen würde. Je besser ich den Körper des Anderen kenne, desto besser kann ich sein und mein Vergnügen steigern. Es kann sein, dass unsere Partner Körperpartien haben, die nicht in der Lage sind, Empfindungen zu empfinden, deshalb ist es vielleicht besser, unsere Berührung auf andere Bereiche zu konzentrieren.
Kreativität ist gefragt
Viele Menschen, die das Gefühl in ihrer unteren Körperhälfte verloren haben, haben berichtet, dass sie in der Lage sind, sexuelle Lust zu empfinden, wenn sie die Brust, die Arme, den Hals, die Ohren und die Hände berühren, also werdet kreativ. Wenn wir jedoch auf die Bedeutung der Kommunikation zurückkommen, können wir nie von der Situation eines anderen Menschen ausgehen. Manche Menschen, die in ihrer unteren Hälfte viel Gefühl verloren haben, können immer noch genitale Lust erleben. Das Gefühl kann anders sein, aber es kann immer noch zu Orgasmen führen, wenn Orgasmen etwas sind, was wir anstreben. Ich habe so oft gesagt, dass Orgasmen nicht das Endziel von Intimität und Sex sein müssen. Wir können immer noch Lust und Nähe mit einer anderen Person empfinden, ohne einen Orgasmus zu erleben. Und manchmal kann es unsere Lust steigern, wenn wir den Orgasmus streichen, denn es nimmt Druck raus. Wenn wir so im Einklang mit dem Körper eines anderen sind, kann auch unser eigenes Körperbewusstsein gesteigert werden, wir können neue Orte am eigenen Körper finden, an denen wir Lust erleben können.
Die Reise der Intimität mit einer Person, die eine Behinderung hat, mag vielleicht wie etwas erscheinen, das Türen verschließt. Die Wahrheit ist, sie neue Möglichkeiten, die wir uns nie hätten vorstellen können.
Speakerin Laura Gehlhaar über ihre Sexualität
Aktivistin, Speakerin und Autorin Laura Gehlhaar sitzt im Rollstuhl seit sie 22 Jahre ist – und lässt sich ihre Sexualität nicht absprechen.
„Behinderte Menschen erfahren meist keine sexuelle Erziehung oder sexuelle Selbstbestimmung. Sie werden einfach mit dem Stempel „Behinderung“, den sie von Anfang auf der Stirn tragen, durch dass Leben geschubst. Da bleibt die sexuelle Selbstbestimmung, aber auch viele andere Arten der Selbstbestimmung, auf der Strecke“, erklärt Laura. Die Wahl-Berlinerin macht im O Talk deutlich, dass das Thema Sex mit Behinderung entweder Fetisch oder Tabu ist – in Deutschland leben rund 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen, die haben es verdient im sexuellen Kontext wahr und ernst genommen zu werden. Seht den Talk im Video!